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#Dialektik der Freiheit

Dialektik der Freiheit

Der kategorischste aller Imperative – Verschwende deine Jugend! – ist wohl einfach hormonell bedingt und gilt folglich universell. Versumpfen kann man in zugequarzten Hinterhöfen genauso gut wie bei Tiktok oder Instagram. Und doch gibt es Generationsunterschiede. Wer als Kind die magisch wirkende Jahrtausendwende noch vor sich hatte, das Weltende qua Systemabsturz, wie tatsächlich kurz geglaubt wurde, der durfte sich in seiner träge die Tage weggammelnden Verlorenheit auch noch kosmologisch bekräftigt fühlen. Und kaum ein Ort war für eine ziellos verschleppte Jugend wohl besser geeignet als das für wenige Jahre anarchische Nachwende-Ost-Berlin, auch wenn im Verborgenen bereits die Spekulanten wüteten. Von vogelfreien Kindertagen in den Ruinen einer zerstobenen DDR-Urbanität handelt die mutmaßlich stark autobiographisch inspirierte Erzählung des im Jahr 1983 in Halle an der Saale geborenen, 1988 nach Ost-Berlin gezogenen Autors Lorenz Just.

Unter den inzwischen doch sehr vielen Jugendverschwende-Texten ragt Justs Roman aufgrund seiner stilistischen Versiertheit hervor. Die dichte, bildstarke, nüchterne Sprache bringt uns die Emotionen der Charaktere ohne alle Sentimentalität nahe. „Am Rand der Dächer“ heißt das Buch, weil in den Neunzigern die Berliner Oberwelt entdeckt wurde. Auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon verträumen viel leere Zeit auf löchriger Teerpappe, einzig den bestirnten Himmel über sich. Der zu den Flachdächern aufsteigende Straßenlärm erinnert die beiden an Meeresrauschen; zwei Schiffbrüchige auf einer kuriosen Insel.

Wenn sich diese Protagonisten überhaupt zu etwas aufraffen, dann handelt es sich um Abhängen auf den einschlägigen Plätzen, Kiffen hinter dem Tacheles, lässige Basketballwürfe auf stählerne Kettenkörbe. Ladendiebstähle kommen bald hinzu, dann kurzzeitig erregende, aber im Grunde langweilige Einbrüche, vornehmlich in Luxuswohnungen von Neureichen, in die sich wunderbar über die Dächer einsteigen lässt. Die erste Liebe ist eine wuchtige Erfahrung für Andrej, die ihn aber trotzdem nicht ganz zu erden vermag, denn auch seine Gefährtin Annika sehnt sich danach, aus allem auszubrechen. Ein Austauschjahr in Amerika steht am Horizont. Es wird den langen Sommer der Anarchie beenden.

Endzeitstimmung in Berliner Hinterhöfen

Das Verplauderte und Mäandernde des Romans wirkt stimmig, gerade weil es die programmatische Handlungsarmut noch einmal unterstreicht. Im Heraufbeschwören der eigentümlichen, heute kaum noch vorstellbaren Prärie-Atmosphäre des von Leerstand, vermüllten Höfen und überwucherten Brachen geprägten Kiezes Berlin-Mitte ist Just besonders patent.

Bei aller Endzeitstimmung wird nämlich zugleich deutlich, dass die Stadt aus Kinderperspektive ein Abenteuerspielplatz war, ein aus der Zeit gefallenes Habitat, durch das Tag für Tag dieselben Kontrollgänge unternommen wurden: „In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt, im trüben Meer des Alltags spazierten wir die Große Hamburger hinauf.“ Ein narrativer Exkurs behandelt das Auftauchen linker Hausbesetzer, die den eingesessenen Ost-Berlinern wie Marsmenschen vorkommen. Auf die Ostler blicken sie mit mildem Erstaunen: „Wir waren Natur, gehörten zu diesen Häusern wie die Tauben und Ratten.“ Die Beobachtung, wie sich das Gründerzeit-Eckhaus in der Kleinen Hamburger Straße 5 in eine knallbunte Ansammlung von Künstlerateliers verwandelte, ist von fast schon lokalgeschichtlicher Genauigkeit.

Der Autor klebt dabei nicht an der kindlichen Sichtweise, sondern lässt ausgereifte Überlegungen einfließen, die dem Buch etwas schwebend Essayistisches verleihen. So wird beispielsweise die popkulturelle Aufladung von Basketball in diesen Jahren analysiert. Um identitätsstiftend zu wirken, habe dieser Sport erst Streetball werden müssen, weil darüber die Regelwächter keine Macht hatten: „Die Sportvereine waren vielmehr eine feindliche Gegenkraft.“ So ist im Sport nachvollzogen, was politisch und sozial geschehen war: eine Befreiung hinein in die Regellosigkeit, in der eine neue Identität erst gefunden werden musste.

Auf solche Weise kehrt die Erzählung immer wieder zu ihren jugendlichen Protagonisten zurück, denn in erster Linie ist „Am Rand der Dächer“ ein psychologischer Entwicklungsroman, ein „Anton Reiser“ der Stunde-null-Wendejahre, der in liebevoller Kleinarbeit rekonstruiert, wie sich die Kinder einer ideologisch obdachlos gewordenen Gesellschaft verzweifelt an die Illusion der großen amerikanischen Freiheit klammern, um nicht allen Halt zu verlieren: „Unser Amerika, dem wir mit Basketball, zu groß gekaufter Kleidung und Musik näher zu kommen versuchten, war eher der Modus, den wir uns erwählt hatten, um wir selbst zu bleiben, also Andrej, Simon und Annika und wer sonst noch dazu gehörte: widerständig, eigensinnig, verspielt.“

Zu bleiben, was man ist, ist freilich das Gegenteil von Erwachsenwerden. Das ist die tragische Dimension der naiven Freiheitsillusion: Nicht nur das Bildungsangebot der Schule prallt an den Protagonisten ab, auch sonst bringen sie für kaum etwas ein gesteigertes Interesse auf und finden sich ab mit einer Existenz am Rande der Kleinkriminalität. Da ist eine Selbstungewissheit, die weit über die übliche pubertäre Verwirrung und Verweigerung hinausgeht. Dass Just im Rückblick nichts schönt und doch Sympathie für seine gebrochenen, tapsigen Charaktere weckt, hebt diesen Roman wohltuend von Erinnerungsbüchern ab, die lediglich nostalgisch in Zeitkolorit baden. Die Jahrtausendwende wird für Andrej zum Augenöffner, dass man – allen Regeln entglitten – gewissermaßen auf Pump gelebt hat: „Wir hatten die Frucht gekostet, bevor der Baum gewachsen war, und würden nun die eigentliche Arbeit nachholen müssen.“ Das ist eine bittere Einsicht, aber zugleich ein Anfang.

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