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Das Harvard-Experiment

Nach gut acht Monaten ohne reguläre Regierung haben die Abgeordneten des bulgarischen Parlaments am Montag einen neuen Ministerpräsidenten gewählt: Der ehemalige Unternehmer Kyrill Petkow wird Regierungschef einer Koalition, die das Land aus einer langen Zeit der Ungewissheit herausführen soll.

Michael Martens

Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.

Nach den Parlamentswahlen im April und deren Wiederholung im Juli war die Mehrheitsfindung noch gescheitert. Erst die dritte Wahl im November brachte eine neue Formation hervor, die den Unterschied ausmachte und als eines der ehrgeizigsten politischen Experimente im demokratischen Teil Osteuropas gelten kann: Prägendste Kraft in der Vierparteienkoalition, die den EU-Staat Bulgarien aus der Krise herausregieren soll, ist die erst im September gegründete Partei „Wir setzen den Wandel fort“, kurz PP. Sie wird oft als „Harvard-Partei“ bezeichnet, da ihre beiden Vorsitzenden – außer Petkow ist das der künftige Finanzminister Assen Wassilew – an dieser Eliteuniversität ihre Abschlüsse erwarben, bevor sie Unternehmer wurden und schließlich als Quereinsteiger in die Politik gingen. Ihr Kabinett ist stark von einem ähnlichen Milieu geprägt.

Der Minister für Innovation und Wachstum etwa studierte laut seinem in bulgarischen Medien verbreiteten Lebenslauf Computerwissenschaft in Israel, bevor er in der Schweiz und anderen europäischen Ländern arbeitete und eigene Firmen gründete. Eine stellvertretende Ministerpräsidentin, die sich um effizientes Regieren kümmern soll, wurde am Bad College im US-Bundesstaat New York ausgebildet. Der Kulturminister studierte in den Vereinigten Staaten und lebte vor seiner Rückkehr nach Bulgarien als Schauspieler und Produzent in Hollywood, Berlin und London. Dort, am Goldsmiths College der Londoner Universität, wurde auch der für Digitalisierung und E-Government zuständige Minister ausgebildet. Viele Beraterinnen und Berater des neuen Kabinetts kommen ebenfalls aus einem elitären Milieu.

Ihre Lebensläufe lesen sich eindrucksvoll, und doch ist ungewiss, inwieweit Petkow und seine Leute ihr zentrales Versprechen, das politische System und insbesondere die Justiz Bulgariens vom Erzübel der Korruption zu befreien, werden einlösen können. Dass die Weihen einer universitären Eliteausbildung keine Gewähr für Erfolg in der Politik sind, versteht sich von selbst. Hinzu kommt, dass PP bei der Wahl im November zwar stärkste Kraft wurde, mit knapp 25,7 Prozent der Stimmen aber auf Koalitionspartner angewiesen ist. Petkow und Wassilew müssen sich im neuen Kabinett auf drei Parteien stützen, von denen zwei als unsichere Kantonisten gelten.

Eine ist die altbekannte Sozialistische Partei Bulgariens, die BSP. Man kann ihr zwar dreißig Jahre nach dem Zerfall des Warschauer Pakts nicht mehr das lange zutreffende Etikett „postkommunistisch“ anheften. Parteichefin Kornelia Ninowa war 21 Jahre jung, als der Ostblock zerfiel. Doch gib es ernsthafte Zweifel an der Selbstdarstellung der Parteiführung, laut der sich die BSP zu einer Reformkraft gewandelt habe. Ninowas regelmäßige nationalistische Anwandlungen sprechen dagegen, die Nähe von Teilen der Partei zu Putins Russland ebenso.

Unklar ist auch, wie sich die Partei „Es gibt so ein Volk“ des Showmasters und Balkanpopsängers Slawi Trifonow an der Macht verhalten wird. Diese ebenfalls neue politische Kraft fiel in der Vergangenheit vor allem durch eine radikalpopulistische Haltung auf. Nachdem seine Partei die Wahl im Juli gewonnen hatte, lieferte Trifonow ein desaströses Schauspiel aus Unerfahrenheit und Selbstüberschätzung ab, scheiterte dann auch bei der Regierungsbildung.

Auf den kleinsten Koalitionspartner dürfte Verlass sein

Gesprächspartner in Sofia wollen wissen, Trifonow und seine Partei seien inzwischen pragmatischer geworden. Für den Erfolg der neuen Koalition wäre es wichtig, dass sie nicht irren. Auf den vierten und kleinsten Koalitionspartner, „Demokratisches Bulgarien“, dürfte hingegen Verlass sein. Personal und Programm der Partei, die im neuen Kabinett für Justiz und Umweltschutz verantwortlich sein wird, lassen erwarten, dass die Reformversprechen ernst gemeint sind.

Die auf der Regierung lastenden Erwartungen sind fast erdrückend hoch. Staatspräsident Rumen Radew wurde nach der Übergabe des Mandats an Petkow mit der Bemerkung zitiert, sollte es nicht gelingen, in den ersten 100 Tagen maßgebliche Veränderungen insbesondere in der Staatsanwaltschaft zu erreichen, könne die Koalition den Kampf um die Zukunft Bulgariens unmöglich gewinnen. Der Präsident sprach demnach auch von einem „tiefen Staat“, den es zu überwinden gelte.

Petkows Bemerkung, dass man den (als besonders korrupt verdächtigten) Generalstaatsanwalt des Landes nicht einfach absetzen könne, wird seiner Anhängerschaft nicht gefallen haben, entspricht aber der Rechtslage. Zugleich gesteht der künftige Regierungschef ein, sein Versprechen einer Politik der „Nulltoleranz“ gegenüber Korruption sei ohne funktionierende Staatsanwaltschaft nicht zu halten.

Zwei Probleme sind besonders dringlich

Doch nicht nur die äußert fordernde Aufgabe der Justizreform muss die Koalition lösen. Kurzfristig sind zwei andere Schwierigkeiten dringlicher: Die hohen Energiepreise belasten den wirtschaftlich schwächsten Staat der EU stark. Die mit Abstand niedrigste Impfrate der EU ebenfalls. Nicht einmal 30 Prozent der Bevölkerung sind doppelt gegen Covid-19 geimpft. Petkow hat eine Impfinitiative angekündigt.

Sofias europapolitischer Kurs dürfte sich dagegen kaum ändern. Bulgarien wird auch künftig die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien blockieren. Die neue Außenministerin Teodora Gentschowska, Absolventin der Militärakademie in Sofia, gilt als Präsident Radew nahestehend. Der verficht im „Geschichtsstreit“ mit Nordmazedonien, bei dem Sofia die Identität der Mazedonier in Zweifel zieht, eine ­nationalistische Linie. So hält es freilich der größte Teil der Sofioter politischen Klasse.

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